"hdv: wenn ich immer nur suchen würde, würde ich nie etwas finden. ich muss es finden." (Herman de Vries in an Interview with Robert Jelinek, 2014)
Herman de Vries (geb. 1931, Alkmaar) ist ein niederländischer Konzeptkünstler, der u. a. mit Fundstücken aus der Natur, mit volksheilkundlichen
oder psychedelisch wirksamen Pflanzen arbeitet. Dabei kombiniert er
künstlerische Arbeitsmethoden mit Methoden aus dem ontologischen,
wissenschaftlichen und ethnobotanischen Bereich. Er arbeitet mit dem Zufall und den fortlaufenden Veränderungen im Leben, verhält sich wie ein Beobachter und zeichnet die vorgefundene Vorgänge auf.
De Vries ist vor allem für seine Fallbilder und Erdausreibungen bekannt. Für die Erdausreibung sammelt er auf seinen Reisen oder im Steigerwald jeweils eine Hand voll von verschiedenen Erden aus geografisch unterschiedlichen Gebieten in durchsichtigen Plasticksäcken. Von den Erden wird ein kleiner Teil auf einem Blatt Papier aufgerieben, wodurch eine Art Farbprobe von der Erde entsteht. Erde und Papier werden gemeinsam in sein Archiv »earth museum« aufgenommen. Für die Fallbilder nimmt de Vries im Herbst Bildplatten in den Wald
mit, die er unter einen Baum legt, um die Blätter vom Baum auf die Platte fallen zu lassen und sie anschließend zu fixieren.
Außerdem typisch für seine Arbeit sind, die in vorgefundene Steine gravierten Schriften mit Blattgold, die er in der Natur belässt, dass er durchgehend die Kleinschreibung verwendet, um seine Haltung gegen hirarchische Perspektiven zu zeigen, sowie die Verwendung der Schrift Futura und seine Rahmungen mit verschiedenen unbehandelten Holzarten.
De Vries ist ausgebildeter Landarbeiter und Pflanzenforscher. Mit 18 hat de Vries eine vierjärige Ausbildung an der Gartenbauschule in Hoorn absolviert und dann vier Jahre lang am Institute for Research in Plant Diseases Wageningen mitgearbeitet. Seit
1961 ist er Teil der internationalen ZERO-Bewegung. Seit 1970 lebt er in Eschenau (Deutschland), wo er in dem 200 km² großen Steigerwald wie in einem Atelier arbeitet. Er unternahm Reisen nach Algerien, Tunesien, in die Sahara, Südindien, Ceylon, Nepal, Indien, Thailand, Laos und Marokko. Seine zwölf philosophischen Bezüge sind Pierre Gassendi, Aldous Huxley, Meister Eckhart, Janis Joplin, Giordano Bruno, Ludwig Wittgenstein, Lao Tse, Pratyagatmananda, Thoreau, Heraklit, Matsuo Basho und Takuan So–ho.
2014 war er Teil der Ausstellung »ZERO Countdown to Tomorrow 1950s – 60s« im Solomon R. Guggenheim Museum in New York, 2015 hatte er im Niederländischen Pavillon der Biennale di Venezia eine Einzelpräsentation. Zu dieser Ausstellung entstand 2014 die Arbeit »from the laguna of venezia. a journal« mit einer 123-teiligen Sammlung an Pflanzeteilen und anderen Aufzeichnungen, dazu zeigt de Vries u. a. eine am Boden ausgelegte, vier Meter weite, kreisrunde Fläche von 108 Pfund Damaskener Rosenknospen, die im Raum duften und »everywhere, 2014–15«, einen aktuellen, 84-teiligen Ausschnitt aus seinem »earth museum«, gesammelt in den Giardini und der Lagune.
Ausschnitte aus einem Interview mit Robert Jelinek in
Der Konterfei Vol. 28: Herman de Vries (2014):
hdv: bei der venezianischen sammlung gehe ich von den farben aus. sie zeigt ein breites spektrum von fast weiss, über knallrot, starkem ocker bis dunkelbraun. es ist eine kleine repräsentative sammlung von erdarten, die in venedig vorkommen und die ich dort gefunden habe.
hdv: ursprünglich wollte ich von der holländischen kunstszene weg. ich wollte auch von der stadt weg und in ruhe zurückgezogen am land arbeiten. so dachte ich, ich gehe nach irland. dort gab es damals günstige cottages für 5.000 gulden zu kaufen. ich hatte 8.000 gulden in meiner tasche. freunde von mir von der rockgruppe »sweet smoke« – ein synonym für haschisch-räucherwerk – sind zu der zeit gerade von ihren reisen aus indien und äthiopien zurückgekehrt und meinten, dass man in dieser gegend hier mühlen kaufen und eine gemeinschaft gründen könnte. so bin ich über le havre und andere umwege hier angekommen. dann sah ich diese grossen schönen, natürlichen wälder, die es in holland nicht gab. an der dorfstrasse stand eine bäuerin und sagte »grüß gott« zu mir. ich fragte sie, ob im dorf eine freie wohnung zu vermieten sei. im pfarrhaus des nächsten dorfes westheim gab es tatsächlich eine wohnung. wäre die bäuerin damals nicht dort gestanden, wäre ich vermutlich weitergezogen. das dorf hatte 180 einwohner und ich bin fünfmal umgezogen, bis ich das grösste haus, eine ehemalige dorfschule in knetzgau, hatte. da war ich 39 jahre alt.
hdv: auf meinen reisen habe ich meistens einen löffel und ein plastiktütchen mit. von der vulkanischen insel la gomera habe ich im laufe mehrerer exkursionen über fünfhundert verschiedene erdproben in den letzten jahrzehnten gesammelt. das schafft einen sehr guten geologischen überblick über eine insel.
RJ; Du sammelst seit 1976 Erden aus aller Welt. Die allererste Probe war Staub von einem Pfad, den du in Indien gegangen bist. Heute umfasst dein »erdmuseum« mehr als 8.000 Proben, die du und auch andere für dich zusammengestellt haben. 2007 hast du das »erdmuseum« an das südfranzösische musée de terres verkauft. Ist das Erd-Archiv damit abgeschlossen oder wächst die Sammlung noch weiter?
hdv: ich habe einen kaufvertrag mit dem museum, in dem festgehalten ist, dass ich, erstens, weitere erdproben hinzufügen kann, zweitens, ich mir die sammlung immer ausleihen kann, und drittens, dass das »erdmuseum« permanent öffentlich zugänglich bleibt und nicht in einem depot verschwindet. die sammlung ist somit, wie andere arbeiten von mir, gut konserviert. aufgrund der isolierung des natürlichen verwesungsprozesses zerfallen die arbeiten nicht. das gilt auch für pflanzen, ausser wenn sie grün sind. dann sage ich immer, dass das grün mit der zeit verschwindet, es verblasst. das »herbarium« von jean-jacques rousseau in der bibliothèque des arts décoratifs in paris ist mit seinen 1.500 pflanzenexemplaren noch immer in einem guten zustand. ich habe das herbarium des royal botanic garden in edinburgh besucht. ein riesiges gebäude mit der unfassbaren sammlung von über drei millionen exemplaren. das personal war dort so freundlich und gab mir sogar den hausschlüssel, damit ich dort am wochenende in ruhe allein, nur mit dem portier, arbeiten konnte. das war sehr beeindruckend.
hdv: 1989 habe ich bei der ersten westlichen ausstellung in warschau eine bodeninstallation bestehend aus circa 49 verschiedenen erden aus ganz polen gezeigt. auch aus den ehemaligen ostdeutschen gebieten war erde dabei. die fundorte der erden standen in polnischer sprache dabei. bei der pressekonferenz wurde ich gebeten diese arbeit zu erklären. ich sagte: »man kann hier sehen, wie polnische erde aussieht und wo sie sich befindet. aber es ist auch eine politische arbeit. ich hoffe, dass es auch weiter polnische erde bleibt und sich die grenzen des landes nicht wieder verschieben, bis wir die grenzen nicht mehr nötig haben und polen oder holland ein europa geworden sind.« die journalisten haben daraufhin minutenlang geklatscht.
hdv: ich habe auch eine fotoserie »vor meinen füssen« (eschenau, 2011) gemacht. dafür ging ich einen pfad im wald entlang, habe alle zehn oder zwölf meter angehalten und ein foto von meinen füssen gemacht. durch den fotografischen ausschnitt entstand eine objektive bemusterung von dem von mir gesehenen und dessen, was ich vermutlich sonst übersehen hätte. ich beschäftige mich mit ganz normalen und einfachen dingen und vorgängen, die erst durch meine sicht darauf besonders werden. ich machte in südfrankreich in dem kleinen museum espace de l’art concret in mouans-sartoux (2000) eine installation aus lavendel. jeder kennt lavendel und dort lag eine fläche von fünf metern durchmesser und aus 54 kilogramm frischen 12 lavendelblüten auf dem boden ausgebreitet. das interessante war, je näher sich die besucher dem lavendel näherten, desto weniger sprachen sie. vor der installation hat jeder geschwiegen. der geruch war so intensiv, dass die menschen aufhörten zu kommunizieren. sie haben sich mit ihrer wahrnehmung beschäftigt und haben es nicht intellektualisiert.
Herman de Vries Webseite
Herman de Vries zur Ausstellung "chance & change", MUSAC, Leon 2017–2018 (10:05 Min.)
Robert Jelinek, Der Konterfei Vol. 28: Herman de Vries, 2014
Herman de Vries, natural relations. eine skizze, Verlag für Moderne Kunst, Nürnberg 1989 (768 Seiten Katalog mit Anmerkungen zur Pflanzensammlung aus Marokko, Delhi, Senegal und Eschenau)
Frieze-Artikel, Jörg Heiser über Herman de Vries und »to be all ways to be«, Biennale di Venezia, 2015